Bangkok

Bangkok, 27.12.2010: „Es kann jederzeit wieder passieren“

 © Tsunami-Experte Seree Supratid © Foto: Martin PelzlSechs Jahre nach verheerender Tsunami-Katastrophe existiert noch immer kein Frühwarnsystem.

Ein verheerender Tsunami verwüstete am zweiten Weihnachtsfeiertag vor sechs Jahren ganze Küstenregionen Thailands, Indonesiens, Sri Lankas sowie in der Andamanensee. Unter den 230 000 Opfern waren mehr als 500 Deutsche. Schon damals wurde von Experten das Fehlen eines Tsunami-Warnsystems im Indischen Ozean kritisiert. Ein halbes Dutzend Jahre später kann von einem flächendeckenden System weiterhin keine Rede sein.

Am 26. Dezember 2004 um 7.58 Uhr thailändischer Ortszeit bebt 85 Kilometer vor der Küste Nordwest-Sumatras die Erde. Mit einer Stärke von 9,1 – das drittstärkste aufgezeichnete Beben in der Geschichte. Die ausgelösten Flutwellen brechen über touristisch vielbesuchte Gebiete herein, viele Urlauber werden praktisch im Schlaf überrascht. Tausende sterben. Dies könnte in Phuket, auf Ko Phi Phi und in Khao Lak laut Seree Supratid „jederzeit wieder passieren“. Denn eine rechtzeitige Warnung ist nicht möglich. „Ein Alarmsystem existiert noch immer nicht“, sagt Supratid, der als Direktor am Energy Environmental Center des Sirindhorn International Environmental Parks in Cha-am (Provinz Phetchaburi) im Südwesten Thailands arbeitet. Zugleich ist er Direktor des Forschungszentrums Naturkatastrophen der Rangsit- Universität und gilt als einer der führenden Tsunami-Experten des Landes.

„Die Fortschritte, die wir hier in Thailand machen, sind nicht so toll“, erklärt er vorsichtig. Bislang seien allenfalls 15 Prozent des nationalen Projekts fertig. „Wir haben zwar eine Menge so genannter stiller Türme an den Küsten gebaut, die einmal für die Information der Bevölkerung sehr wichtig sind“, berichtet der Experte. Doch stünden diese praktisch leer herum. Seiner Ansicht nach liege dies nicht am Geld, sondern am politischen Willen im Land des Lächelns. Nach Hauruckaktionen unter der Regierung des mittlerweile außer Landes gejagten Premiers Thaksin hätten nur noch punktuelle Erfolge erzielt werden können.

„Die Politiker denken nur in Zwei- Jahres-Schritten bis zur nächsten Wahl“, so Supratid. Lieber kämen sie – wie in Thailand – jedes Jahr mit finanziellen Kompensationshilfen für die Betroffenen vorbei und ließen sich feiern, als in die Langzeit-Prävention zu investieren. Für diese kurzfristige Unterstützung sei eine Menge Geld geflossen. In den Langzeit-Sicherheitsplan hingegen im Verhältnis nur sehr wenig. „Der politische Gewinn ist bei Projekten, die einfach Zeit brauchen und nicht ständig in den Medien sind, zu gering“, versucht er eine Erklärung. Das sei aber keineswegs ein spezielles thailändisches Problem, „dies kennen Sie sicher auch aus Deutschland“.

Einen kleinen Erfolg konnte Supratid aktuell doch für sich verbuchen. Der seit vier Jahren geführte Kampf umeine Freigabe von weiteren Geldern für das thailändische Tsunami-Warnsystem war vor wenigen Wochen erfolgreich.

„Ich hoffe, dass wir nun binnen der nächsten fünf Jahre ein funktionierendes Vorhersagesystem hinbekommen“, so der Experte. Es wird etwa zwei Milliarden Baht (rund 50 Millionen Euro) kosten. Damit seien die Probleme aber noch lange nicht gelöst. „Eigentlich müssten die Menschen raus aus den betroffenen Gebieten – ebenso wie aus den vom Hochwasser einzelner Flüsse bedrohten Regionen –, doch das traut sich denen keiner zu sagen“, zeigt er eine weitere Baustelle auf.

In den anderen Ländern der Region sieht es offenbar nicht besser aus. Indien werkelt an einem System, Malaysia ebenso. Anfragen zur Zusammenarbeit werden unter anderem mit dem Verweis auf militärische Geheimhaltung abgelehnt. Auch das viel gepriesene deutsch-indonesische Tsunami- Frühwarnsystem Gitews (German Indonesian Tsunami Early Warning System), das unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Geoforschungszentrum Potsdam entstand, arbeitet laut Supratid alles andere als reibungslos. Letzte Panne: Ende Oktober waren die Menschen auf den Mentawai-Inseln schutzlos einer Flutwelle ausgesetzt, wurden nicht gewarnt. Hunderte starben.

„Immer wieder werden in Indonesien Bojen geklaut oder defekte nicht ersetzt“, so der Experte. Grund: Einerseits sind Bojen wegen der Edelstahlaußenhaut und der wertvollen Technik im Inneren für Diebe sehr interessant, anderseits werden neue – „vermutlich wegen der hohen Kosten von rund zwölf Millionen Thai-Baht pro Stück“ (etwa 300 000 Euro) – nicht angeschafft. Er halte ein rein bojenbasiertes Warnsystem ohnehin für „zu instabil“. Beispielsweise seien die Tiefsee-Bojen der US-Regierung im Indischen Ozean „viel zu sensibel und zu oft kaputt“, so der Chef des Forschungszentrums Naturkatastrophen. Hinzu kämen Fehlalarme, Datenverluste und die Entfernung von 1200 Kilometern bis zur Küste. Eine gesicherte Vorhersage sei so nicht möglich.

Supratid unterstützt Bestrebungen einer Unterorganisation der Vereinten Nationen, die die Anrainerstaaten des Indischen Ozeans „zur Zusammenarbeit ermuntern“ und von einem „gemeinsamen System“ überzeugen will. Bislang aber ohne Erfolg. „Wenigstens eine Kompatibilität der regionalen Systeme muss aber sichergestellt werden“, so die Mindestforderung des Experten. Sonst seien bei der in Zukunft erwarteten höheren Frequenz von Tsunamis Katastrophen wie 2004 programmiert.

Martin Pelzl
veröffentlicht am 27. Dezember 2010 in der Leipziger Volkszeitung.

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